Unter all den Volksläufen stellt der Hermannslauf wirklich die Ausnahme dar. Er hält sich als Ergebnis einer mutigen Idee nicht an die geliebten Standarddistanzen, er führt über Wege, die Geschichten erzählen und eigentlich eben nicht für das schnelle Laufen gemacht sind und beschreibt nicht einmal die übliche Runde.

Nun haben seine Erfinder und Macher mit seiner 50. Wiederholung die Ausnahme endgültig zur historischen Regel gemacht und so gezeigt, dass man manchmal nur mit Anderssein etwas schaffen kann, was Bestand hat.

Eine freie Entscheidung

Über 6.400 Teilnehmer und Teilnehmerinnen ließen sich zum Jubiläum auf die eine große Ausnahme mit den vielen kleinen Ausnahmen ein, darunter auch 13 Finisher der LG Burg. Sie folgten der Einladung und wagten den verbindenden Lauf zwischen den beiden Metropolen des Teutoburger Waldes. Aber gerade angesichts der großen Zahlen ist vorab vielleicht ein Wort der Beruhigung sinnvoll. Die Läuferinnen und Läufer, ebenso wie die fleißigen Walkerinnen und Walker machen sich an diesem Tag tatsächlich auch selbst zur Ausnahmeerscheinung. Sie sind nicht etwa, wie sie im Schatten des Hermannsdenkmals auf den Startschuss warten und von den später an der Strecke postierten, frenetischen Zuschauern angefeuert werden, nur widerstandsloser Teil einer mehr oder weniger inszenierten Massenveranstaltung. Auch wenn der auf den Sockel gehobene Cheruskerfürst mit seinem erhobenen Schwert und strengen Blick als bedrohliches Zeichen empfunden werden mag, welches uns die Wahl über unser Schicksal abnehmen könnte. Angesichts des Streckenprofils mangelt es nicht an herausfordernden Anlässen, mit sich selbst prüfend ins Gericht zu gehen und die Entscheidung über das Ob und Wie des Laufens immer wieder neu zu fällen! Letztlich braucht somit jeder Schritt beim gefühlten Marathon eine bewusste, freie Entscheidung des einzelnen Läufers, weiterzumachen.

 

Eine Brücke nur für Läufer

Schon die ersten Meter der halben Runde um den Hermann verlangen angesichts der langen Läuferschlange eine kluge Zurückhaltung. Nach dieser gebremsten Ouvertüre erobert man die ansonsten den Ausflüglern vorbehaltene Denkmalstraße, die nach einem Besuch in Vogelpark und Adlerwarte hinauf zum Denkmal wollen. Das langanhaltende starke Gefälle von bis zu 20% verführt dazu, sich allzu stark zu fühlen. Aber auch hier ist auf dem Weg hinab ins Heidental Disziplin angesagt. Es folgen dann einige ruhige Kilometer durch das Tal, bis man kurz der Lopshorner Allee folgt, die uns am Wochenende schnurstracks in die wunderschöne Landschaft der Senne führt. Die Läufer biegen jedoch begleitet vom Bläserchor der CVJM rechts ab, zur ersten Bewährungsprobe, dem Sattel zwischen dem Allhornberg und dem Großen Ehberg. Die lange Steigung zieht sich wie das viel zitierte Gummiband. Endlich oben angekommen gelangt man am Wasserwerk vorbei über ein starkes Gefälle nach Augustdorf. Dort erleben alle Beteiligten eine wahrhaft große Ausnahme, die man an diesem Geburtstag des Hermannslaufs ganz besonders als Symbol verstehen könnte. Die von der benachbarten Kaserne strengstens geschützte Panzerbrücke wird nur an diesem Tag zur Läuferbrücke.

Nach diesem besonderen, ausgesprochen friedvollem Genuss geht es immer am Rand der Senne entlang. Jeder Blick auf die weite, unberührt wirkende sandige Ausnahmelandschaft des Truppenübungsplatzes könnte wahrhaftig aus dem Repertoire eines Landschaftsmalers stammen. Schließlich durchquert man nach einer knackigen Steigung die Stapelager Schlucht. Sie bildet ein kleines geologisches Schlupfloch. Vor langer Zeit konnte man über ein aus der Senne kommenden Fernweg hier leicht den Teutoburger Wald überwinden. Wie gut, dass die dortigen Wegsperren wohl seinerzeit den Vormarsch der Römer behindern sollten, uns Läufer aber heute überhaupt nicht mehr kümmern müssen. Andererseits, wie sollte ein Lauf, der den Namen des Cheruskerfürsten in sich trägt, ganz ohne ein subtiles Zeichen auf die Belagerung der Römer auskommen?

Der Kompromiss

Allmählich wird es nach einer in der Schlucht gereichten Erfrischung Zeit, sich auf den gefürchteten Tönsberg mental und taktisch vorzubereiten. Denn solange es den Tönsberg gibt, werden sich Läufergenerationen darüber mit offenem Ergebnis austauschen, wann und wie lange hier eine Gehpause nützlich ist oder nicht. Dies liegt an der Wand, die es zu überwinden gilt, bevor man auf den aussichtsreichen Kammweg auf immerhin 333 m Höhe gelangen kann. Vielleicht hilft an dieser Stelle zumindest der Hinweis, dass die Hünenkapelle auf dem Tönsberg dem hlg. Antonius gewidmet wurde, der als Asket gelebt haben soll. Der Asket würde wohl sagen: egal, ob man geht oder läuft, es kommt im Leben auf die dauerhafte, disziplinierte Schulung der eigenen Fähigkeiten an. Unsere Laufgemeinschaft hat dies im Übrigen mit größter Ausdauer in unzähligen vorgelagerten Sonntagen unter der erfindungsreichen Gestaltung von Laufcoach Alex Krauße exerziert. Manche konnten danach ihre Laufzeit auf die Minute genau voraussagen (Grüße an Ralf). Wer laufen will, muss also üben. Der Weg zur läuferischen Vollkommenheit kann aber gelegentlich über das Gehen führen. Das ist doch ein gesichtswahrender Kompromiss.

Zwischen Sauerkraut und Rockmusik

Im Anschluss an diese Lehrstunde in Sachen Tugenden, erspäht man nach herrlicher Aussicht auf die Tiefebene des Münsterlandes sowie einige tückische Bodenwellen später, mit der Kumsttonne das Wahrzeichen der charmanten Bergstadt Oerlinghausen. Hier ist es so, wonach es aussieht. Die Kumsttonne ist tatsächlich eine Mühle, die in einem längst vergangenen Sturm (1734) einst ihre Flügel verloren hat.

Der verbliebene Stumpf erinnerte in der Zeit des Selbermachens und bäuerlicher Selbstversorgung an einen Sauerkrauttopf, deshalb der Name Kumsttonne, wobei Kumst für Sauerkraut steht. Nachdem auch dieses Rätsel gelöst ist, freuen sich nicht nur die eifrigen Hermannslaufvorbereiter der LG Burg darüber, dass man die 236 Stufen der Himmelsleiter zur rechten Seite der baulichen Erinnerung an das Kohlgemüse, links liegen lassen kann. Vielmehr zieht es die Läufer mit einem starken Gefälle über klassisches Kopfsteinpflaster in die offenen Arme der jubelnden Bergstadt. Man muss und darf das Geheimnis des Hermannslaufs hier deutlich spüren. Der unaufhörliche Zuspruch über Stunden an jeden Läufer und Wanderer, gepaart mit heftiger musikalischer Begleitung und ein gewaltiges, stärkendes Buffet, sagen jeden Aktiven: es kommt auf dich an!

Und so ist es auch. Getragen von der Unterstützung und dem Gefälle läuft man kurze Zeit später gegen eine Wand unweit des lieblichen Schopketals, mit einem Augenzwinkern auch AC/DC-Hügel genannt. An dieser Stelle erklingt unaufhörlich der zwar rhythmisch motivierende, aber letztlich der Motorisierung huldigende Sound Highway to Hell. So schnell kann die Idee von der eigenen Kraft also in sich zusammenfallen!

 

Kein Treppenwitz

Im folgenden letzten Drittel des Hermannslaufs spielt er noch ein paar Trümpfe aus, um sich nachdrücklich in das Gedächtnis von uns Läufern einzubrennen. Auf dem Highway to Hell steuern wir zwar zunächst über sanfte Wellen auf Lämershagen zu, quälen uns jedoch dann eine beträchtliche Steigung hoch, nur um die gewonnenen Höhenmeter hinauf in die kleine Siedlung, sofort wieder zu vernichten. Die Anwohner dort zollen den Aktiven auch mal bequem im Gartenstuhl sitzend, gut gelaunt und mit Wasserschlauch ausgestattet ihren Respekt. In Angesicht der dortigen Autobahnbrücke kann man sich kurz erhaben darüber fühlen, auf diese erlahmende Form der Fortbewegung nicht angewiesen zu sein. Aber die Quittung folgt auf dem Fuß, die insgesamt 120 Lämershagener Treppen wollen bewältigt werden, die zudem im Doppelpack daherkommen. Im zweiten Teil besteht aber die Freiheit, einen Bogen um die steilen Treppen zu laufen. Despektierlich mit dem Hinweisschild Weicheier versehen. Wie war das noch mit der übenden Askese ...?

 

Ein fürstlicher Empfang

Wichtiger ist, dass das urbane Leben mit dem Hochhaus am Kesselbrink in Bielefelds Innenstadt bald in der Ferne sichtbar wird. Jetzt dringt das städtische Leben zu uns vor, erste gelegentlich etwas verstört wirkende Spaziergänger tauchen auf. Bei den Läuferinnen und Läufern wächst die Zuversicht, das Ziel sicher erreichen zu können. „Nur“ noch kleinere, fiese Steigungen über typisches gelbliches Sandsteingeröll erobern, vorbei am Bismarckturm auf dem Ebberg, nochmals unangenehme Treppen passieren und schon stehen wir am Eingang eines Stadtteils, der sich nahezu ausschließlich dem Helfen und Heilen verschrieben hat! Hangwärts zur berühmten Promenade in Richtung Sparrenburg liegen die zahlreichen Einrichtungen von Bethel. Bald taucht dann der leuchtend rote Zielbogen auf und gefühlt steht ganz Bielefeld frenetisch anfeuernd an der Strecke. 

Im Ziel stand deshalb fest, dass wir wieder mal mit der LG Burg echt etwas geleistet haben! Mit all den tausenden Läuferinnen und Läufern haben wir an diesem Geburtstag Schritt für Schritt das unbeschreibliche Gefühl geschaffen, wenn aus der gezählten Masse eine tiefe Laufgemeinschaft wird, weil alle laufend gemeinsam genau eine Sache suchen: diese Ausnahme!

 

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