Es gibt scheinbar eine beliebig große Anzahl Widersprüchlichkeiten oder gar Paradoxien, mit denen wir Läufer uns notgedrungen beschäftigen müssen.
Ja, im strengen logischen Sinne sind es keine wirklichen Paradoxien a là „Ich sage nie die Wahrheit“, aber als Munition für die berühmte „Kopfsache“ reichen sie sehr nah an ihr philosophisches Vorbild heran. Beispiel gefällig: Nicht langsamer werden bei Gegenwind, Gel schlürfen und trotzdem nach dem Lauf noch Kuchen essen oder akribisch sein Leben Trainingsplänen opfern und trotzdem nicht schneller werden. Nun hatten sich gut zwei Dutzend Läuferinnen und Läufer der LG Burg nach einem respektablen Event gesehnt, um kollektiv womöglich neue Widersprüche zu entdecken und sich den bekannten unter ihnen erfolgreich zu stellen. Die Wahl des Expertenteams (Dank an Kicki und Maik) musste angesichts dieser hohen Anforderungen nahezu zwangsläufig auf die unumstrittene städtebauliche Heimat der runden Ecken fallen, die es ja eigentlich nicht geben kann. Gemeint ist der Enschede Marathon, der immerhin der zweitälteste Marathon-Wettbewerb in Europa ist. In der heute so beliebten Einkaufsstadt Enschede, scheiterte anno 1862 der Kampf gegen einen verheerenden Stadtbrand unter anderem daran, dass die Feuerwehrschläuche an den scharfkantigen Häuserecken zerrissen wurden. Das sollte verständlicherweise nie wieder passieren, da aber trotzdem die meisten Häuser eine innige konstruktive Verbindung mit ihren rechtwinkligen Ecken haben, erfand man kurzerhand die sogenannten runden Ecken. So konnte man eine Kränkung der Architekten vermeiden und trotzdem durch gerundete Fassaden die Feuerwehrschläuche schonen.
Für den persönlich erfolgreichen Ausgang der ganzen Sache ist bekanntlich eine optimale Vorbereitung von größter Bedeutung. Deshalb traf sich die gesamte LG Burg-Mannschaft am Vorabend des Events von ihren Unterkünften auf einem Campingplatz, in Ferienhäusern oder schicken Hotels kommend, zentral zur vornehmen Pastaparty in einem angesagten italienischen Restaurant am Oude Markt. Es ist nur eine Spekulation, aber offensichtlich hatten tausende andere Läufer einen ähnlichen Plan. Auf jeden Fall war die dort außerordentlich umfangreiche Gastronomie angesichts des herrlichen Wetters vollbesetzt, so dass die Szenerie in ein südländisches Flair getaucht wurde. Anschließend ging es nach dem Austausch über die Renntaktik und allerlei anderen Läuferthemen auf dem Fahrrad wieder zurück in die jeweiligen Herbergen. Wohl dem, der die niederländischen Verkehrsregeln beherrscht! Für alle zukünftigen Nachahmer: In der führenden Fahrradstadt der Niederlande gibt es eine eigene Ampelschaltung nur für Fahrradfahrer, die nach der Grünphase für die Autos, allen Radlern aus allen Richtungen grünes Licht gibt!
Am anderen Morgen trafen wir uns nach der gelungenen Nudelsession auf dem (neuen) Marktplatz, um bei Nieselregen im kleinen Zelt für die Schließfächer, dicht aneinander gedrängt zunächst die Wartezeit mit den typischen Ritualen einer kontrollierten Aufgeregtheit zu verbringen. Wer er es bequemer haben will dem sei – Obacht – die Anreise mit dem Auto empfohlen. Chilliges Parken in der Tiefgarage unterhalb der Startaufstellung, gleich direkt neben den dort aufgebauten Duschmöglichkeiten. Endlich konnten wir uns dann mit den zahlreichen gut gestuften Pacemakern und ca. 7.000 Starterinnen und Starter in den Startblöcken kuscheln und auf das Startsignal warten. Und da war es schon, das erste Paradox: schwierige Sache, mit einer aufgewärmten Muskulatur zu starten, wenn man so 20 Minuten für die Startaufstellung einplanen muss. Dicht gefolgt von Nummer zwei der Herausforderungen: im Gedränge nach vorne eilen, ohne Opfer fremder Füße zu werden. Elisabeth hatte es hier tatsächlich erwischt. Umso bemerkenswerter, dass sie mit einer Topzeit souverän ihre Altersklasse gewinnen konnte!
Doch bald kam tatsächlich der ersehnte Flow, einerseits durch die zahllosen gut gelaunten Zuschauer, andererseits löste sich auf einer breiten Straße das Gedränge schnell auf. Klasse auch, dass die ersten Kilometer als Wendepunktstrecke ausgelegt sind. So kann man die Kollegen erspähen und sich gegenseitig nochmal anfeuern. Andererseits kam einem hier in Form der mit unfassbarer Geschwindigkeit vorauseilenden Profiläufer der nächste Widerspruch entgegen. Sie machen unsereiner klein und demütig, trotzdem musste man jetzt an die eigene Stärke glauben. Gar nicht so einfach.
Auch die Natur kann reichlich innere Gegensätze stimulieren. Heute war es vor allem der Wind. Auf den ersten Kilometern wurde bei den meisten von uns mit viel zu hoher Geschwindigkeit der geplante negative Split über Bord geworfen, um nach dem Wendepunkt festzustellen, dass nicht das gute Training geholfen hat, sondern ein zarter, aber schmeichelhafter Rückenwind, in Verbindung mit einem seichten Gefälle.
Die nächsten Kilometer führen anschließend durch den Stadtrand hin zu einigen naturnahen Passagen im ländlichen Umland von Enschede. Etwa bei KM 12 passiert man dabei die ansehnliche Lonneker Mühle und erlebt, dass die Lonneker eine weit bekannte Leidenschaft fürs Feiern haben. Da wartet der nächste Widerspruch: wäre doch auch cool, einfach mitfeiern, statt sich zu quälen. Aber weiter geht es. Die Marathonis werden kurze Zeit danach auf ihren Bogen durch das ländliche Umfeld geschickt, während die über 6.000 Halbmarathonis in Richtung Innenstadt abbiegen dürfen, vorbei am neu aufgebauten Stadtteil Roombeck, der durch die verheerende Brandkatastrophe in 2002 völlig zerstört wurde. Man muss übrigens schon sehr im Tunnel sein, um nicht mit einem Lächeln auf die phantastische Stimmung mit tausenden Zuschauern und Musikevents zu reagieren. Im Ziel wartete schließlich in Form des aus Wannen geschöpften Wassers das letzte Paradox dieser Veranstaltung. Allen dort üblichen Köstlichkeiten aus Schokoriegeln und Weizenbier musste man also entsagen und trotzdem galt es, genussvoll die eigenen Reserven aufzufüllen.
Zu guter Letzt schlüpften viele von uns noch leidenschaftlich in die Doppelrolle als Läufer und Zuschauer. Nach dem Halbmarathon bestand nämlich ausreichend Gelegenheit, die Marathonis und die später gestarteten 10 Km-Läufer anzufeuern, natürlich wurde dabei die eben errungene Medaille stolz um den Hals getragen. Bei unserem abschließenden Ausklang im gemütlichen Restaurant, aber erst recht beim großen Outdoor-Frühstück auf dem Campingplatz am Folgetag, wurde das Erlebte nochmal bis ins Detail rekonstruiert und nachbesprochen. Das Fazit war klar. Bei uns allen war der Enschede-Marathon eine durch und durch gelungene Sache. Der Enschede Marathon hat uns allen gezeigt, was Läuferinnen und Läufer wirklich für ihr Glück brauchen. Nichts anderes als: runde Ecken.